Der inflationäre Wahnsinn

Veröffentlicht am 18. Juni 2022 um 08:17

Unsere moderne Seitenblicke-Society – und nicht nur die – zeichnet sich durch zweierlei Unsitten aus:

zum Einen nach einem unsäglichen Trieb in jede Kamera zu stieren und dabei möglichst unpassende oder auch nichtssagende, ja peinliche Kommentare abzugeben. Und zum Anderen in einem gefühlt inflationären Umgang mit Superlativen nahe der Psychiatrie.

Gefragt nach Eigenschaften eines Jubilars, nach Leistungen einer preisgekrönten Persönlichkeit, nach dem Oeuvre einer Künstlerin oder der Anmut einer verwelkenden Charity-Lady dauert es meist nur einen Seiten-...ähm Augenblick, bis das gesuchte Adjektiv mit „Wahnsinn“ oder gar „Irrsinn“ nachgerade geadelt wird.

 

„Sie ist so eine wahnsinnig starke Persönlichkeit“, ließ sich kürzlich die Regisseurin des Dok-Films über Alice Schwarzer über ihre Protagonisten entlocken. „Er…“ wäre „ein wahnsinnig innerlicher und ruhiger Mensch“, meinte etwa Felix Dvorak über den grad 90 gewordenen Harald Serafin. Wobei abseits der Wahnsinns-Beschreibung die übrige Zuordnung zu diskutieren wäre, aber das ist ein anderes Thema.

Diese – nur exemplarischen – Beispiele sollen den Umgang mit den überhandnehmenden, ja überbordenden Wahn- und Irrsinnigkeiten unserer Wortatropie verdeutlichen. Und das ist keineswegs ein Phänomen aus dem Biotop der verunglückten SprachakrobatInnen der Seitenblicke-Blase. Nein. Heutzutage wird eigentlich alles und jedes – vom Furz bis zur paradisischsten Landschaft, vom kleinen Hoppala bis zum Jahrhundertereignis – in gnadenloser Einfallslosigkeit als wahn- oder irrsinnig beschrieben. Eigentlich liegt die Intention aber weniger im Beschreiben etwas Außergewöhnlichen, mehr im zweifelhaft und fast augmentativen Suchen nach bedeutsamen Worten.

In welch sprachlicher Einöde, welcher Wortwüste leben wir heute, wenn alles und jedes nur mehr wahnsinnig oder irrsinnig sein muss, um außergewöhnlich wahrgenommen zu werden? Fehlt es an der Phantasie, dass es auch bemerkenswerte Menschen gibt? Dass erstaunliche Ereignisse, atemberaubende Landschaften, eindrucksvolle Kunstwerke, fulminante Leistungen oder denkwürdige Anlässe weniger an verbalen Diskont grenzen, als ein wahnsinnig geiler Event?

Es wäre an der Zeit, dem Wahn- und Irrsinn dieses superlativen „Alltagssprechs“ ein
en einfallsreicheren, vielseitigeren und vor allem präziseren Sprachgebrauch entgegensetzen. Sonst fehlen uns alsbald die Worte für die beachtlich schönen Dinge, die großartigen Menschen und sowieso allem abseits der Psychiatrie...

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